1 BETEILIGENDE GESTALTUNG

Vom sozialen Wert der Gestaltung in der Stadtentwicklung

Sarah Ann Sutter

Städte sind Verdichtungsraum und Brennglas für soziale Prozesse (Rolshoven 2021). Nirgendwo werden die Herausforderungen gesellschaftlicher Teilhabe, der Zugänglichkeit zu Bildung, Arbeit und bezahlbarem Wohnraum offenkundiger. Stadtgestaltungsprozesse müssen sich daher mit immer komplexer werdenden Fragestellungen auseinandersetzen. Wie kann ein Stadtviertel sozial- und klimagerecht entwickelt werden? Wie können wir diese Transformation aktiv gestalten? Welche Rolle können da-bei lokale Akteur:innen im Entwicklungsprozess einnehmen? Wann ist »echte« Teilhabe erreicht?

Gestaltungsprozesse verändern sich im Laufe der Zeit, das steht in enger Korrelation mit dem Wandel unserer Gesellschaft. So lässt sich die Relevanz sozialer Aspekte bei gestalterischen Fragen schon in der Architektur des Bauhaus im politisch-sozialen Kontext der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise feststellen (Sachs 2018). Seither kann ein zunehmend sozialer Anspruch in Entwürfen von Gestalter:innen und an das Design beobachtet werden. Wo zunächst das »Design für den Menschen« im Mittelpunkt stand, entwickelt sich eine zunehmend transkulturelle und partizipatorische Perspektive, die einen Wechsel vom sozialen Design für die Gesellschaft zum Design mit der Gesellschaft markiert (Sachs 2018). Dementsprechend wird auch die Rolle der Gestalter:in eine vielfältigere und changiert nun zwischen schaffenden, forschenden, vermittelnden und Prozess gestaltenden Tätigkeiten (Celik & Kampe 2017).


• DEN SOZIALRAUM VERSTEHEN

Eine Teilhabe der Gesellschaft an der Gestaltung von Raum setzt zunächst ein Verständnis für ihren Sozialraum voraus, denn die Verknüpfung von Sozialraum und physischem Raum seit Ende des 19. Jahrhunderts stellt einen Zusammenhang von Raumproduktion und gesellschaftlicher Entwicklung her. Dabei stehen seine Struktur und das Handeln im Raum in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Raum besteht also nicht einfach so, er wird sozial produziert. Henri Lefebvre beschrieb beispielsweise Raumproduktion in drei Dimensionen: in Form von wahrgenommenem, gedachtem und gelebtem Raum. So überlagern sich in seinem Modell die räumliche Praxis, die die Produktion und Reproduktion verschiedener sozialer Formationen und deren Alltagshandlungen beschreibt, die Raumrepräsentationen, das ist der mit Wissen und Codes aufgeladene konzeptualisierte Raum der Planenden, und die Repräsentationsräume, sprich der gelebte Raum, der gebildet wird in Bezug auf Erlebtes und Geschichte (Lefebvre 2015).

Ausgehend von diesen Grundannahmen, muss eine Analyse von Raum also nach den sozialen Konstellationen, den Machtverhältnissen und den historischen Bedingungen fragen, die diese Umwelt beschreiben. Eine Schwierigkeit sieht Lefebvre darin, wenn in den von Planenden entwickelten abstrakten Räumen Ideologie und gelebte Realität auseinanderfallen (Lefebvre 2015). Aufgabe der Gestalter:in muss sein, diese beiden Dimensionen näher zusammenzurücken.

Italian Trulli

Ein anderer wichtiger Aspekt, um Sozialraum verstehen zu lernen, ist laut Martina Löw, dass Städte als sozial konstruierte Phänomene Eigenlogiken entwickeln und sich damit also höchst individuell konstituieren. Die Eigenlogiken speisen sich aus aktuellem und vergangenem Handeln im Raum und wirken sich auf die Erfahrungsmuster derer, die in ihnen leben, aus (Löw 2018). Genauso wie man daher »Stadt« nicht als einheitliches Laboratorium für eine gesellschaftliche Analyse begreifen kann, lassen sich auch eigens entwickelte Gestaltungsstrategien nicht einfach auf einen anderen Ort übertragen. Die Gestalter:in muss den spezifischen Sozialraum verstehen – und die Bedürfnisse und Alltagspraxen, also Lebensstile, Handlungsethiken oder Alltagsauffassungen der verschiedenen Gruppen kennenlernen, um Defizite zu identifizieren und städtische Entwicklungspotenziale vorzuschlagen.


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• WERKZEUGE UND KONZEPTIDEEN FÜR BETEILIGENDE GESTALTUNG

Nirgendwo können wir diese Alltagspraxen besser beobachten als im öffentlichen Raum. Als Ort, an dem Gesellschaft aufeinandertrifft und interagiert, kommt ihm eine übergeordnete Bedeutung zu. Dort finden Aushandlungsprozesse und Teilhabe im Sinne einer »realen Demokratie« statt – es spiegelt sich ein gesellschaftliches Spektrum wider (Berger & Wildner 2018).

Soziale Teilhabe und öffentlicher Raum bildeten den Ausgangspunkt für das Lehrforschungsseminar »Beteiligende Gestaltung«. Der Titel des Seminars stellte die These auf, dass Gestaltung soziale Teilhabe von Menschen befördern und sie zur Mitgestaltung aktivieren kann. Im Seminar sollten die Studierenden in ihrer Rolle als Gestalter:innen auf experimentelle Weise ergründen, was Teilhabe für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen bedeutet und wie Gestaltungs- und Nutzungsmöglichkeiten von Raum Momente der Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglichen können. In Bezug auf die bereits im »Labor Nordbahnhof« und während des Sommerworkshops erarbeiteten Analysen und Erfahrungen bildeten Jugendliche, Senior:innen, Multikulturalität, Künstler:innen sowie Urban Gardening Gemeinschaft die unterschiedlichen sozialen Schwerpunkte für das Seminar. Vertreter:innen dieser Fokusgruppen standen den Studierenden über den gesamten Seminarzeitraum als Pat:in zur Seite und ermöglichten ihnen so einen niederschwelligen Zugang.

Die erste Phase bestand aus teilnehmender Beobachtung und Analyse des sozialen Felds. Wie funktionieren die einzelnen Fokusgruppen? Welche alltäglichen Handlungen lassen sich feststellen, welche Bedürfnisse eruieren oder auch Verbindungen zu anderen Akteur:innen ermitteln? Mithilfe der Feldtagebücher, informell geführter Gespräche mit Bewohner:innen, gezielter Mappings und Stadtspaziergängen, die in Form von Fotodokumentationen festgehalten wurden, sammelten die Studierenden wichtige Erkenntnisse.

Um die örtlichen Akteur:innen und ihre Verhaltensweisen auf einer alltäglichen Basis kennenzulernen, waren regelmäßige und kontinuierliche Präsenz der Studierenden vor Ort ausschlaggebend. So konnten neue Kooperationen gebildet und bestehende Netzwerke erkannt und genutzt werden. Die Vertrauensbildung zu den jeweiligen Gruppen war eine zentrale Voraussetzung dafür. Die Studierenden benötigten hierfür Qualifikationen außerhalb ihres fachspezifischen Standardrepertoires, wie beispielsweise ein hohes Maß an Empathie oder eine unvoreingenommene Offenheit gegenüber dem ihnen Unbekannten. Durch diesen anderen Umgang mit Stadt- und sozialen Entwicklungsfragen waren also neue Einstellungen, neue Formen der Zusammenarbeit und neue Fähigkeiten gefragt und brachten damit ein verändertes Rollenverständnis als Gestalter:innen mit sich.

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Mit der zweiten Phase des Projektes folgte die Auswertung der Analyse und deren kreative Übersetzung in Konzeptideen für »Beteiligende Gestaltung«. Die Studierenden formulierten anhand ihrer Ergebnisse spezifische Forschungsfragen für die jeweiligen Fokusgruppen, aus denen sie im nächsten Schritt räumliche Konzepte für Momente der Teilhabe entwickelten. Die Reflektion und Weiterentwicklung der Ideen mit externen Expert:innen aus Sozial-, Kunst- und Kulturwissenschaften nahm bei diesem Prozess eine wichtige Rolle ein. Weitere Erkenntnisse sammelten die Studierenden durch das temporäre Experimentieren mit ihren Konzeptideen vor Ort im Nordbahnhofviertel.


• ANEIGNUNG VON ÖFFENTLICHEM RAUM DURCH KINDER UND JUGENDLICHE

Eine der Pat:innen war das Kinder- und Jugendhaus Nord. Es ist seit Jahrzehnten eine feste Institution im Viertel und Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 27 Jahren. Die Studierenden begleiteten die Hausleitung an mehreren Terminen bei ihrer alltäglichen Arbeit und hatten so Gelegenheit, mit Kindern und Jugendlichen verschiedener Altersgruppen und Herkünfte ins Gespräch zu kommen. Mithilfe eines Fragebogens wurden im Einzel- oder gemeinschaftlichen Dialog Besonderheiten, Ideen und Wünsche oder Sorgen und Sehnsüchte in Bezug zum Nordbahnhofviertel aufgenommen. Zusätzlich waren die Studierenden im Viertel unterwegs, um vor dem Hintergrund der im Jugendhaus gesammelten Erkenntnisse weitere Beobachtungen zu öffentlichen Aufenthaltsräumen von Kindern und Jugendlichen im Viertel anzustellen. Der Begriff der Aneignung und die damit einhergehenden Möglichkeiten zur Mitgestaltung dieser Räume hatten in der vorangegangenen Literaturrecherche eine zentrale Rolle gespielt. Diese Aneignung beobachteten die Studierenden vor allem an der Skaterhalle und an einem der wichtigsten zentralen Treffpunkte des Viertels: dem Marktplatz an der Mittnachtstraße.

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Das Jugendhaus spielte den Gesprächen nach auch deswegen eine zentrale Rolle im Leben vieler Kinder und Jugendlicher, da nur wenige anderweitige Aktivitätsorte »die Spaß machen« im Viertel vorhanden sind. Der Marktplatz wäre zudem momentan stark von einer bestimmten Gruppe Jugendlicher dominiert, beschrieben die Be-fragten. Viele Kinder fühlten sich dadurch verdrängt oder beschrieben den Ort sogar als Angstraum. Gleichzeitig würden sie den Platz gerne nutzen und sicher durchqueren.

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Aus den gesammelten Erkenntnissen entwickelten die Studierenden die Konzeptidee, dass Kinder und Jugendliche sich aktiv beteiligen können sollen, um sich die Mittnachtstraße wieder anzueignen. Diese Aneignung kann über verschiedene Objekte im öffentlichen Raum unterstützt und von einem regelmäßigen, betreuten Workshop-Angebot begleitet werden. Die gemeinsam entwickelten und gebauten Objekte (z.B. Spielgeräte, Sitzmöglichkeiten) können von Kindern und Jugendlichen individuell weitergestaltet werden und sollen allen dauerhaft im öffentlichen Raum zur Verfügung stehen. So können sich Kinder ihren Raum in der Mittnachtstraße Stück für Stück zurückerobern. Dass dieses Konzept funktioniert, zeigte sich auch beim Experiment der Studierenden. Ihre temporäre Intervention mit verschiedenen Spielangeboten am Marktplatz zeigte hohe Resonanz bei den Kindern.


• URBANES GÄRTNERN ALS ANTRIEB FÜR GEMEINSCHAFTSBILDUNG

Der Verein Stadtacker ist eine bunte Gemeinschaft aus Menschen unterschiedlichster Herkunft, Alters- und Beschäftigungsgruppen, die sich einzeln oder gemeinsam um die Beetfläche an den Wagenhallen kümmern und für das Gemeingut Acker sorgen. Die Gartengemeinschaft versteht sich auch als Bildungsraum für nachhaltige, ökologische Lebensmittelproduktion in der Stadt. Die Studierenden kamen bei mehreren Besuchen vor Ort mit diversen Mitgärtner:innen ins Gespräch. Die Organisationsstruktur des Vereins und die einzelnen thematischen Arbeitsgruppen lernten die Studierenden bei einem Besuch der monatlichen Mitgliederversammlung kennen. Dabei waren auch aktuelle Bedürfnisse und Herausforderungen Thema. So erschwert die momentan sehr unsichere Zukunft in Zusammenhang mit dem Bau der »Maker City« und der anstehende Umzug auf eine kleinere Fläche längerfristige Planungen.

Für viele Anwohnende und Beschäftigte im Viertel ermöglicht der Ort, als alltäglicher Erholungsraum, ein Stück Natur inmitten der Stadt zu erleben. Auch stammt ein Großteil der Gärtner:innen aus dem angrenzenden Wohnviertel. Eine erste Verbindung zwischen Wohnviertel und Wagenhallen besteht also bereits durch den Verein. Bisweilen stellen Sprachbarrieren der heterogenen Zusammensetzung der Nutzer:innengemeinschaft eine Herausforderung dar. Durch Beetprojekte bestehen bereits gute Kooperationen mit den beiden ansässigen Grundschulen aus dem Nordbahnhofviertel. Darüber hinaus ist der Bekanntheitsgrad des Stadtackers im Viertel jedoch noch ausbaufähig.

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Die Studierenden erkannten durch ihre Analyse den großen Wert des Stadtackers als Brückenschlag zwischen Alt und Neu sowie als gemeinschaftlichen Bildungsort. Sie schlugen mit ihrer Konzeptidee eine Stärkung und Weiterentwicklung dieser Komponenten auf geeigneten Flächen im Bestandsviertel vor. Diese identifizierten sie aufgrund von Lage, Maßstab, Nutzungsstruktur und Zugänglichkeit in den großen Innenhöfen. So würde der umzugsbedingte Flächenwegfall kompensiert, der Bekanntheitsgrad im direkten Umfeld gestärkt und inklusive, barrierefreie Flächen zum generationenübergreifenden Gärtnern geschaffen werden. Dadurch entwickeln sich im besten Fall neue, selbstverwaltete Gemeinschaften auf Wohnblockebene, die über den einfachen Zugang des Gärtnerns noch mehr Menschen Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglichen. Der »Innenhofacker« besteht aus modularen Bausteinen, die für die unterschiedlichen Nachbarschaften individuell anpassbar sind. Der Stadtacker versorgt sie mit Erde und Setzlingen. Ebenfalls durch den Acker geleitete Themen-Workshops fördern den Austausch und tragen zur Wissensbildung um nachhaltige Lebensmittelproduktion im urbanen Umfeld bei.


• KUNST- UND KULTURSCHUTZGEBIET

Der Kunstverein Wagenhalle e.V. besteht seit 2004 und hat eine einzigartige Produktionsstätte am Stuttgarter Nordbahnhof aufgebaut. Sie beherbergt Ateliers, Studios, Werkstätten, Ausstellungs- und Lagerräume. Momentan unterliegt der Kunstverein einem enormen Veränderungsdruck durch die Entwicklung des neuen Stadtviertels auf den umgebenden Flächen. Diesen Eindruck konnte auch die Studierendengruppe beim Besuch von diversen öffentlichen und internen Veranstaltungen, mehreren Gesprächen mit Künstler:innen sowie Beobachtungen des alltäglichen Lebens und Arbeitens vor Ort gewinnen. Mit der zwangsmäßigen Verkleinerung aufgrund der anstehenden Baumaßnahmen geht ein Verlust von Außenproduktions-, Aufenthalts- und Grünflächen mit einmaliger Atmosphäre der in den vergangenen Jahren entstandenen Container City einher. Gleichzeitig sehen Stadtverwaltung und Planung den Verein als wichtige Partner:in bei der Bespielung des künftigen zentralen Quartiersplatzes vor der Wagenhalle.

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Die Studierenden konzentrierten sich auf die Ermittlung der bestehenden Bedürfnisse der Künstler:innen im Freibereich und auf die Fragestellung, wie die besondere Atmosphäre dieses Bereiches teilweise erhalten bleiben kann. Dabei fanden sie heraus, dass Freiflächen zum einen als Produktionsstätte und Experimentierraum mit Lager- bzw. Transitflächen für sperrige Materialen einen hohen Stellenwert einnehmen, zum anderen als Ort für Erholung und Rekreation im Grünen, als Kommunikations- oder Rückzugsort eine essenzielle Rolle spielen. Für öffentliche Veranstaltungen wie beispielsweise die jährlich stattfindenden »Offenen Ateliers« wird der Freibereich zudem als Raum für gastronomisches Angebot, Eventbühne und erweiterte Ausstellungsfläche genutzt. Eine wichtige Rolle wird in Zukunft auch die Verwaltung und Organisation der verbleibenden Fläche spielen, die die Künstler:innen dazu anhält, Nutzungen zu vergemeinschaften und neue Synergien zu erzeugen.

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Darauf aufbauend entwickelten die Studierenden ein Konzept, wie der wandlungsfähige Freiraum weiterhin in komprimierter Form den essenziellen Bedürfnissen der Künstler:innen entsprechen und die atmosphärischen Besonderheiten der Container City in die Zukunft übertragen kann. Zu diesem Zweck wurden die bestehenden, ortsprägenden Einzelobjekte herausgefiltert und auf einer minimalen Fläche zu einem konzentrierten Haufen, dem P.I.L.E., vereint, der neue Räume, Nischen und Plattformen für diverse Anforderungen generiert. Die Buchstaben in P.I.L.E. stehen stellvertretend für die wichtigsten Nutzungen und Bedürfnisse (Produktion, Individualität, Lagerung, Erholung) der Künstler:innen. Je nachdem, wie viel Platz die umgebenden Baumaßnahmen lassen, kann sich der Haufen verdichten oder wieder entzerren – bis sich die einzelnen Objekte eines Tages den neuen Kunstboulevard oder Quartiersplatz aneignen können.


• SICHTBARKEIT VON MULTIKULTURALITÄT

Das Haus 49 hat sich als internationales Stadtteilzentrum bereits seit knapp 50 Jahren im Viertel etabliert. Viele Gruppen von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen treffen sich in der Einrichtung und nutzen die Räumlichkeiten. Die Studierenden führten ein Expert:innengespräch mit der ehemaligen, langjährigen Leitung und nahmen die Einrichtung als Impuls und Ausgangspunkt für diverse Stadtspaziergänge. Durch seine einzigartige Geschichte als »Postdörfle« für die Unterbeamt:innen der Bahn und Post und der damit verbundenen Aufnahme vieler Gastarbeitenden nach dem zweiten Weltkrieg ist das Nordbahnhofviertel seit jeher in besonderer Weise kulturell geprägt. Diesen »Besonderheiten« versuchten die Studierenden mithilfe von Fotodokumentationen und in Gesprächen mit Bewohner:innen aus dem Viertel auf den Grund zu gehen. Sitzgelegenheiten, die von den Anwohnenden selbst mitgebracht und im öffentlichen Raum als Treffpunkt platziert wurden, waren dabei die eindrücklichsten Spuren. Auch eine hohe Identifikation der verschiedenen Gesprächspartner:innen mit dem Nordbahnhofviertel konnten die Studierende feststellen. »Wir sind hier und wir sind stolz und glücklich hier zu sein«, stellte beispielsweise eine der Befragten fest. Anders als oft von außen wahrgenommen, beschrieben die meisten den Stadtteil als sozial stark und gut vernetzt.

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Die Studierenden analysierten, dass die multikulturelle Zusammensetzung Gefahr lief, durch äußere Einflüsse wie das Auslaufen der bestehenden Milieuschutzsatzung, der Immobilienspekulation oder dem andauernden Stadtentwicklungsprozess Rosenstein in Zukunft stark verändert zu werden. Viele der Menschen vor Ort brachten ihre Sorge darüber in Gesprächen zum Ausdruck. Darauf aufbauend entwickelten die Studierenden das Konzept einer Intervention, die als Verstärker für diese Stimmen Pate steht und die Kostbarkeit der kulturellen Identitäten des Viertels nach außen trägt, um sie für die Stadtöffentlichkeit sichtbar zu machen.

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Jugendliche mit multikulturellem Hintergrund prägen die Zukunft des Stadtteils und nehmen daher eine wichtige Rolle im Konzept ein. Ein neues »Landmark« in Form eines begehbaren Turms soll ihnen die Möglichkeit bieten, sich selbst und ihre kulturelle Identität auf eigene Art und Weise auszudrücken. Es bietet Flächen zur Aneignung durch Graffitikunst und lädt durch seine Gestaltung zum Treffen und Aufenthalt ein. Der Standort auf dem Parkplatz des ehemaligen Großkinos, am Eingang zum Nordbahnhofviertel und direkt entlang der Bahngleise, erzeugt überregionale Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit bei den vorbeifahrenden Bahnreisenden.


• IM VIERTEL ALT WERDEN

Die Landesbaugenossenschaft (LBG) bietet als eine der großen Vermietungsgesellschaften im Viertel nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern vor allem auch vielen Senior:innen Wohnraum.

Die Studierenden führten mehrere Einzelgespräche mit Senior:innen aus dem Viertel, die ihnen durch die Wohngesellschaft vermittelt wurden. Ausgehend von den Alltagsbeschreibungen fanden über einen längeren Zeitraum Beobachtungen und informelle Umfragen an den beschriebenen Aufenthalts- und Bewegungsorten im Viertel statt. Die daraus entstandenen Kartierungen und Fotodokumentationen vermittelten ein großes Spektrum an Bedürfnissen und Herausforderungen, die im Alltag der Senior:innen relevant waren. So zeigte sich, dass die U-Bahn für viele ältere Menschen das wichtigste Verkehrsmittel darstellte. Alle Infrastrukturen, die im Nordbahnhof fehlten, waren damit für sie gut erreichbar. Außerdem schätzten sie die Wohnqualität und Atmosphäre im Nordbahnhof sehr hoch ein. »Hier haben wir unsere Ruhe«, wurden beispielsweise die grünen Innenhöfe anerkennend beschrieben. Auch der Rosensteinpark und Pragfriedhof bildeten für sie als »grüne Oasen« wichtige Naherholungsorte. Angebote wie der LBG-Mietertreff formen wichtige Treffpunkte für ältere Menschen aus dem Viertel und von außerhalb. Das Expert:innengespräch während des Workshops untermauerte noch einmal, dass die Vielfältigkeit der Senior:innen hinsichtlich ihrer Interessen, Mobilität, Alltagsgestaltung oder Herkunft ausgeprägt ist.

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Als wichtige Erkenntnis ging für die Studierenden aus den Analyseergebnisse hervor, dass Kontakt zu anderen und damit der öffentliche Raum als Interaktionsort einen starken Einfluss auf die soziale Teilhabe und den Prozess des Alterns haben. Dafür benötigt es jedoch attraktive Anreize, Aufgaben und Angebote. Die Hemmschwelle muss gering und die Zugänglichkeit sehr gut sein. Generationenübergreifende Angebote sind dabei wichtig, um nicht noch zusätzlich zur Isolation im Alter beizutragen. So können die Potenziale des Viertels, die zum langfristigen Erhalt der Selbstständigkeit und Mobilität von Senior:innen beitragen, ausgeschöpft werden.

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Ein Experiment ergab hierzu ebenso interessante Erkenntnisse. Das öffentliche Wohnzimmer, eine gemütlich gestaltete Sitzecke mit Möglichkeiten zum Rasten, Spielen und Lesen, das die Studierenden am Marktplatz Mittnachtstraße installierten, wurde weniger von Senior:innen genutzt, als direkt zu Beginn von einer Gruppe Kinder zum Uno Spiel übernommen. Auch wenn die Senior:innen die Intervention nicht selbst nutzten, beobachteten sie doch das Treiben der Kinder aus einiger Entfernung und stellten neugierige Fragen. Es zeigte sich, dass auch wenn es nicht möglich war, eine Intervention im öffentlichen Raum nur auf eine spezifische Alters- oder Personengruppe zuzuschneiden, ein niederschwelliges, leicht zugängliches und generationenübergreifendes Angebot Synergieeffekte für Senior:innen haben kann. Hierfür sollte die Gestaltung einem weniger informellen Charakter folgen, da sich Senior:innen sonst wenig eingeladen fühlen. Temporäre Angebote der LBG und anderer Akteur:innen aus dem Viertel können das Angebot einer solchen »Straßen-Stube« ergänzen und tragen zur Sichtbarkeit bei. So soll ein neuer Treffpunkt im Viertel Senior:innen zum »Leben vor der Haustür« animieren und soziale Teilhabe und Selbstständigkeit im Alter fördern.


• SOZIALE TEILHABE – EINE ANNÄHERUNG

Soziale Teilhabe befindet sich als Konzept in ständiger Verhandlung und bedeutet oft für jede soziale Gruppierung eine andere und nicht selten konkurrierende Lösung. Alle hier vorgestellten Konzepte finden für die einzelnen Fokusgruppen Vorschläge im öffentlichen Raum. Neue Orte und Aufenthaltsräume im Stadtviertel werden skizziert, die auf die jeweiligen Bedürfnisse ihrer Gruppe nach Zugänglichkeit, Aneignung, Identifikation, Rückzug und Austausch eingehen. Die räumlichen Interventionen stellen weniger ein zwanghaftes Nutzungsangebot dar, sondern eröffnen den Bewohner:innen vielmehr Möglichkeitsräume durch eigenes Ausprobieren, Anpassen und Aneignen selbstständig gemeinschaftliche Lösungen zu finden. Diese Art der Aushandlung ist typisch für gesellschaftliche Prozesse im öffentlichen Raum und Zeichen sozialer Teilhabe am öffentlichen Leben. Für Interventionen in allen Kontexten besteht stets das Risiko der Übernahme durch einzelne soziale Gruppen. So haben beim Bespielen des Nordbahnhofviertels die Jugendlichen eine starke Präsenz im Stadtraum. Genau hier fällt vermittelnden Institutionen, wie in diesem Fall den sozialen Einrichtungen oder zivilen Vereinen, eine tragende Schlüsselrolle zu.

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Dass Gestaltung von Raum, insbesondere an der Schnittstelle des öffentlichen Raums einen Beitrag zu sozialer Teilhabe leisten kann, haben die hier vorgestellten Analysen und Konzepte aufgezeigt. Natürlich stellen sich in der Verstetigung solcher Vorhaben weitere Fragen hinsichtlich Verantwortlichkeit, Kontinuität und Regulierung. Gestaltung kann dabei unter vielen anderen Aspekten als Werkzeug begriffen werden, das Menschen zur Teilhabe befähigt und animiert. Wie eine der Pat:innen treffend formulierte: »Teilhabe fängt bei jeder einzelnen Person an. Es braucht dazu den Willen und das Interesse an einer Beziehung mit dem eigenen Lebensumfeld.«.

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