2 MOBILITÄTSWENDE AKTIV GESTALTEN

Corona und Mobilität

Tom Kwakman

2020 wurde unser Lebensalltag durch die Ausbreitung des Corona-Virus und den damit einhergehenden Beschränkungen deutlich verrückt und neu definiert. Neben den starken Einschränkungen hatte die Pandemie auch weitreichende Auswirkungen auf den öffentlichen Raum und unser Mobilitätsverhalten: Unsere Straßen wurden leerer, die Luftqualität besser und man lernte seine Nachbarschaft neu kennen und schätzen. Homeoffice wurde zur Normalität und im öffentlichen Verkehr fuhren leere Busse und Straßenbahnen. Aber hat die Pandemie es geschafft, unsere Mobilitätsroutinen auch nachhaltig zu verändern? Und wenn ja, inwiefern?

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Der Mobilitätswandel oder die Verkehrswende ist letztlich unabdingbar: Im Gegensatz zu Branchen wie Energie (-45 %) oder Industrie (-34 %) hat der Verkehrssektor (-0,2 %) seit 1990 kaum CO2-Emissionen eingespart (Umweltbundesamt 2016). Die Effizienzstrategie von Verbrennern hin zu Elektromobilen führt zwar zur Reduzierung von Treibhausgasen, findet aber keine Antwort auf den Flächenverbrauch in unseren Städten. Ein Tesla Model S benötigt im Vergleich zur Tram pro Bewohner die 20-fache Fläche. Im Vergleich zum fahrenden Fahrrad sogar die 28-fache Fläche (Umweltbundesamt (Hrsg.) 2019).

Der öffentliche Raum ist als große Herausforderung der Mobilitätswende neu zu verhandeln – ein Aspekt, mit dem sich das »Labor Nordbahnhof« der Hochschule für Technik unter anderem während des Sommerworkshops 2021 intensiv beschäftigt hat.

• GUTE VORAUSSETZUNGEN FÜR DEN WANDEL?

Die im Nordbahnhofviertel vorhandenen Mobilitätsangebote sind vielfältig. Eine Straßenbahn führt durch das Quartier und bindet den Hauptbahnhof in nur zwei Stationen an. Zwei Carsharing-Stationen, Free Floating Anbieter und zwei öffentliche Ladesäulen sind vorhanden. Der Motorisierungsgrad ist mit weniger als 300 Fahrzeugen pro Einwohner geringer als der Stuttgarter Durchschnitt von 368 (LHS (Hrsg.) 2020).

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Insgesamt wurden drei Umfragen zum Thema Mobilität im Nordbahnhof durchgeführt: im Herbst 2020 sowie im Frühjahr und Herbst 2021 (HFT (Hrsg.) 2022). Nach der Auswertung der Umfragen gaben 57 % der Teilnehmenden an, dass sie durch die Pandemie weniger Wegstrecken zurücklegen mussten. Die drei Hauptgründe waren Home-office-Regelungen (82 %), ein Rückgang der Freizeitaktivitäten (67 %) sowie verstärkte Onlineeinkäufe (39 %). Mehrfachnennungen waren möglich. Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MiV) am Modalsplit blieb während der Pandemie gleich, wogegen der öffentliche Verkehr stark nachließ und die aktive Mobilität mit dem Rad oder zu Fuß zunahm. Verglichen mit Daten aus der Mobilität in Gesamtdeutschland (Eggs 2019) verschoben sich die Wegezwecke sowie die Personenkilometer in der Pandemie von Freizeit nach Einkauf. Die Teilnehmenden verbrachten ihre Freizeit also vermehrt im Supermarkt, was bei den seinerzeit bestehenden Beschränkungen nicht weiter verwundert. Die Gesamtwegstrecke pro Tag betrug für die Stadt Stuttgart während der Pandemie etwa 19 km, im Vergleich zu 39 km pro Tag im Jahr 2017. Auch die tägliche Wegezahl nahm ab: von 3,2 Wegen auf etwa 1,9 Wege pro Tag (Eggs 2019, Kuhnimhof/Nobis 2019).

Aber konnten die Veränderungen im Verhalten der Alltagsmobilität nach Ende der Pandemiebeschränkungen beibehalten werden? Leider nein. Die Umfragen zeigten, dass die Gesamtmobilität wieder zunahm und einzig die teils verbliebenen Homeoffice-Regelungen einen kleinen Beitrag zur Verkehrsvermeidung beitrugen. Um den Wandel in der Mobilität voranzutreiben, kann sich also nicht auf positiven Nebeneffekten der Corona-Pandemie ausgeruht werden. Ausgehend von den Ergebnissen der Umfragen wurden im Nordbahnhofviertel drei Themen der Mobilitätswende behandelt:

1. Während des ersten Sommerworkshops im Labor Nordbahnhof wurde ein Parklet gebaut und Möglichkeiten untersucht, öfter auf das private Auto zu verzichten.

2. Potenziale von Carsharing wurden beleuchtet, da hier ein großes Interesse einer geringen Nutzung gegenüberstand.

3. Für das gesamte Nordbahnhofareal wurde eine Potenzial- und Standortanalyse für einen Mobilitätshub durchgeführt.

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• RAUMWUNDER AUF DEM SEITENSTREIFEN

Auf Grundlage der zweiten Umfrage im Frühjahr 2021 (HFT 2022b) befasste sich das »Labor Nordbahnhof« während des Sommerworkshops mit einer Gruppe von vier Student:innen mit der Frage, wie die Mobilitätstransformation im Viertel vorangetrieben und der MiV verringert werden kann. Die Umfrage zeigte, dass bei Fahrten mit einem Verbrennermotor 46 % der Wege unter 5 km und 72 % unter 10 km waren. Durch Gespräche mit Bewohner:innen wurden im Workshop Ideen iterativ und niederschwellig getestet. Um auf den Flächenverbrauch des MiV und auf alternative Nutzungsmöglichkeiten von Parkplätzen hinzuweisen, entwickelte die Gruppe das Parklet »Raumwunder« als Experiment. Parklets sind kleine Gebilde, die eine Parkfläche in einen Aufenthaltsbereich für den Menschen transformieren. Sie werden dazu genutzt, das Potenzial von städtischem Raum plastisch aufzuzeigen. Besonders nützlich ist dieses Instrument in Quartieren, die wenige oder keine öffentlichen Aufenthaltsbereiche wie Parks oder Grünflächen bieten können. Ziel war, die Bewusstseinsbildung bei den Anwohner:innen anzuregen, die durch die Intervention ihre Routinen hinterfragen sollten. Gleichzeitig sollten Wünsche der Bewohner:innen gesammelt werden, um langfristige Lösungsansätze zur Aufwertung des Viertels zu finden. Dazu wurde auf einem Parkplatz im Quartier eine Collage präsentiert, die verschiedene Möglichkeiten der Transformation des öffentlichen Parkraums zeigte. So bekamen die Bewohner:innen eine Vorstellung davon, was auch in ihrem persönlichen Umfeld möglich wäre. Um ein Meinungsbild abzufragen, wurden zur Collage kleine Karten mit Piktogrammen ausgelegt, welche die unterschiedlichen Optionen repräsentierten. Diese konnten in eine Wunschbox eingeworfen werden. Des Weiteren wurde abgefragt, welches Verkehrsmittel am häufigsten genutzt wird. Ein Wegweiser zeigte den Weg zu den nächstliegenden Bike- und Carsharing-Stationen. Um die Aufmerksamkeit zu steigern und die alternativen Nutzungsmöglichkeiten eines Parkplatzes zu zeigen, wurde frisch Gegrilltes kostenfrei ausgegeben. So kamen viele Diskussionen über aktuelle und generelle Themen der Mobilitätswende und der Nutzung des öffentlichen Raums im Quartier zustande. Es lohnt sich also, Aufwand in die Gewinnung einer größeren Zahl an Teilnehmenden zu stecken, da auf diese Weise durchaus plausible Daten gewonnen werden konnten. Dies ermöglichte erst den Vergleich mit öffentlich zugänglichen Daten. Außerdem ist die Vernetzung mit relevanten Stakeholdern essenziell, um Kooperationspartner:innen zu finden, die eine dauerhafte Realisierung beispielsweise eines Parklets erst ermöglichen.

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• CARSHARING ALS CHANCE?

Im Stadtgebiet »Auf der Prag« in Stuttgart Nord ist der Carsharing-Anbieter Stadtmobil mit drei festen Stationen vertreten. Zusätzlich sind im Stadtgebiet die Carsharing-Fahrzeuge des stationslosen Anbieters von Share Now zu finden (Share Now 2022). Die Stadtmobil-Stationen sind im Norden, Westen und Süden des Viertels verteilt. Die südliche Station ist derweil eine sogenannte Urlaubsstation und existierte bis zum 16. September 2022. An dieser Station standen bis zu 60 Carsharing-Fahrzeuge bereit (Stadtmobil 2022). Die Station existiert weiterhin mit verringerter Flottengröße.

In den Umfragen wurden die Teilnehmenden nach ihrem Interesse an Sharing-Angeboten befragt, wobei 77 % angaben, daran Interesse zu haben. 28 % der Teilnehmenden kannten ein Carsharing-Angebot im Viertel, während 72 % anführten, die bestehenden Angebote nicht zu kennen. Dennoch waren 79 % bereit, Carsharing zu nutzen, während 12 % kein Interesse an Carsharing ausdrückten. Etwas konträr zum hohen bekundeten Interesse an Carsharing-Angeboten aus der ersten Frage hatten jedoch lediglich 48 % solche Angebote bereits genutzt und 52 % der Befragten bisher noch keine Erfahrungen damit gemacht.

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Laut der Befragungen wurden Sharing-Angebote vor allem für Freizeitaktivitäten sowie für den Einkauf und Arbeitsweg genutzt. Für 50 % sollte eine Carsharing-Station im Idealfall nicht mehr als sechs Minuten vom Wohnort entfernt liegen, für 22 % sollte der Weg maximal drei Minuten betragen. Weitere 12 % der Teilnehmenden sahen eine Fußweglänge von bis zu zehn Minuten als angemessen. Mehr als 20 % der Befragten gaben an, aktuell keine wöchentlichen Ausgaben für Carsharing zu haben, knapp 35 % machten keine Angabe dazu. Die übrigen Antworten ließen erkennen, dass die Befragten bereit wären, bis zu 10 € pro Woche für Carsharing auszugeben.

Zum Abschluss wurde den Teilnehmenden die Frage gestellt, ob sie ihren Privat-PKW durch Carsharing ersetzen würden. Da nicht alle Befragten einen PKW besaßen, lag der Fokus nur auf einer Gruppe von 35 Personen. Davon konnten sich 57 % vorstellen, auf den Erst- sowie Zweitwagen zu verzichten, sollte ein gutes Carsharing-Angebot in unmittelbarer Nähe verfügbar sein. Auf den Zweitwagen wollten 6% verzichten, während 14 % noch unentschieden waren. Nur 13 % lehnten einen Verzicht ab (HFT (Hrsg.) 2022).

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Es zeigt sich also, dass bei einem gut ausgestalteten Sharing-Angebot eine hohe Umstiegsrate zu erwarten ist. Dabei kann ein kommunales Mobilitätsmanagement helfen, das gezielt Sharing-Angebote in den Vordergrund rückt. Auch eine Gegenüberstellung der Kosten eines Privat-PKWs – inklusive aller versteckten Kosten – kann zu einem Umdenken führen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Sharing-Fahrzeug nicht immer billiger ist als ein eigener PKW, da verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sind. Vor allem für Wenig- und Gelegenheitsfahrende ist Carsharing jedoch preislich interessant. Die bestehenden Standorte sind schlecht einsehbar und liegen am Rand des Viertels. Eine Verbesserung dieser Situation könnte die Erschließung neuer Standorte im Gebiet beinhalten, sodass sich zum einen Fußwege von der Wohnung zum Angebot verkürzen und zum anderen mehr Fahrzeuge bereitgestellt werden können. Standorte lassen sich entlang der Nordbahnhofstraße beispielsweise in Verbindung mit den Bildungseinrichtungen im Norden oder den Einkaufsmöglichkeiten sowie der neu entstehenden S-Bahn-Haltestelle Mittnachtstraße im Osten finden. Auch könnte bei bestimmten Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Neuhinzugezogenen durch gezielte Werbung und den Einsatz von Gutscheinen ein Anreiz geschaffen werden, den privaten PKW zum Beispiel beim Umzug abzuschaffen oder Überlegungen zu einem Neuwagen zu vertagen.


• MOBILITÄTSHUB

In einem weiteren Seminar untersuchte eine Studierendengruppe des Studiengangs Verkehrsinfrastrukturmanagement Bedarfe und mögliche Standorte für einen Mobilitätshub im Nordbahnhofviertel. Als bevorzugte Stadtteile ergaben sich Europaviertel, Nordbahnhof und Heilbronner Straße. Dies schloss jedoch die potenzielle Eignung anderer Stadtteile nicht aus. Für die nähere Standortwahl wurden daraufhin zwei Lösungsansätze entwickelt. Es zeigte sich, dass sowohl ein zentrales Parkhaus, als auch mehrere dezentrale Parkhäuser jeweils ihre Vor- und Nachteile hätten. An den gewagten Vorschlag eines Parkhauses als Überdeckelung eines Teils der Heilbronner Straße (Szenario 1A) und die moderatere Standortlösung auf einem Fabrikgelände in der Nähe zur Gäubahntrasse (Szenario 1B) schlossen sich drei dezentrale Lösungen an: eine verkleinerte Version des Szenarios 1B, der Standort »Wolframstraße« im Nordosten des Europaviertels und ein weiterer Standort in unmittelbarer Nähe des Nordbahnhofs. Um eine ungefähre Einschätzung der Größenordnungen der vorgestellten Lösungsansätze und Szenarien zu vermitteln, wurde eine Methode zur groben Dimensionierung entwickelt. Bei der zentralen Lösung ergab sich demnach eine Stellplatzanzahl für Carsharing-Fahrzeuge in einer Größenordnung von ca. 65 Fahrzeugen und etwa 100 Ladestationen. Bei den dezentralen Lösungen variierten die erforderlichen Stellplätze für das Carsharing-Angebot je nach Standort zwischen 7 und 21 sowie bei der Anzahl der Ladestationen zwischen 23 und 73.


• MOBILITÄTSWENDE GESTALTEN

Eine aktuelle Studie in Bochum (Graf/Petermann/Pfeiffer 2022) kommt zu dem Ergebnis, dass für eine verstärkte Nutzung multimodaler Verkehrsmittel drei Aspekte besonders wichtig sind: die Verfügbarkeit der Verkehrsmittel, eine intensive Nutzung der direkten Wohnumgebung und eine positive Einstellung gegenüber dem Fahrrad. Unsere Forschung hat gezeigt, dass das Nordbahnhofviertel Potenzial besitzt, einen Beitrag zur Mobilitätswende in Stuttgart zu leisten. Alle drei für den Nordbahnhof untersuchten Fokuspunkte, jedoch insbesondere die Stärkung des Nutzungsverhaltens der direkten Wohnumgebung, konnten dabei helfen.

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Die Straßenverkehrs-Ordnung definiert den Begriff Straße folgendermaßen: »Alle für den fließenden und ruhenden Straßenverkehr oder für einzelne Arten des Straßenverkehrs bestimmte Flächen, einschließlich der Plätze, der Sonderwege für Radfahrer, Reiter und Fußgänger und der öffentlichen Parkplätze« (Straßenverkehrs-Ordnung StVO vom 06.03.2013). Straße und Parkraum sind jedoch auch öffentlicher Raum. Orte, an dem Menschen sich treffen, an denen die Nachbarschaft durch Austausch gestärkt wird und an dem Kultur entsteht. In Zeiten, in denen die globalen Krisen immer näher an uns heranrücken, ist das vielleicht genau der richtige Ort, um anzufangen und selbstbestimmt die Zukunft vor der eigenen Haustür zu gestalten.